Theoretische Grundlagen zur Hermeneutik und Sequenzanalyse

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Version vom 14. März 2018, 16:19 Uhr von Cbuchheim (Diskussion | Beiträge) (Voraussetzung für empirisches Vorgehen (Prinzipien der Sequenzanalyse))
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Was versteht man unter “Sequenzanalyse”?

Die Sequenzanalyse stellte eine Methode zur Interpretation von qualitativen Daten (Interviews, Gruppendiskussionen u.ä.) dar. Mit ihr sind wir in der Lage, Regeln und soziale Bedeutungen von Interaktionen und Handlungen aus dem Text heraus zu rekonstruieren, um schließlich soziales Handeln erklären zu können. Das Kernstück der Sequenzanalyse ist ihre chronologische Vorgehensweise: Alle Daten werden anlang ihrer zeitlichen Entstehung interpretiert. Zu keiner Gelegenheit sind dabei Daten aus einem späteren Zeitpunkt zu nutzen, um einen Früheren zu erklären (Maiwald 2015, S. 2-4 [1]), Reichertz 2011, S. 1, 3f, 23 [2]).

Vorgehensweise bei der Sequenzanalyse

Die generelle Vorgehensweise beschreibt sich sehr simpel: Man nehme das zu interpretierende Transkript, bzw. Material und beginnt mit der Interpretation der ersten Einheit. Was dabei als eigentliche Interpretationseinheit, oder Sequenz, festgelegt wurde gilt eher als ein sekundäres Problem. Ziel der Interpretation ist, möglichst viele verschiedene Lesearten zu produzieren: Man beachtet in der Regel den Beginn der Interaktion und entwickelt gedankenexperimentell möglichst viele denkbare Umstände und Kontextbedingungen, die die Äußerungen im der Sequenz verständlich und sinnvoll erscheinen lassen. Den Begriff “Leseart” kann man als “sinngebende Geschichte” verstehen.

Im nächsten Schritt werdem die Handlungsregen der einzelnen Lesearten nun herausgelöst und expliziert ausbuchstabiert. Ziel hier ist das Aufzeigen des gesamten möglichen Handlungsraumes, um die Frage danach zu beantworten, welche Handlungen sind für die Situation denkbar sind. Umso genauer hier die Sinnstruktur bestimmt wurde, um so spezifischer lässt sich das Interaktionsmuster herausarbeiten (ebd., S. 22 [2])

Im letzten Schritt werden die aufgestellten Regeln überprüft und falls möglich ausgeschlossen. Wichtig ist hier die Frage danach, welche Regeln tatsächlich verwirklicht wurden, und welche nicht. Aufschlussreich für das Material ist hierbei nicht allein, welche Lesearten sich als kompatibel mit dem im Material gegebenem Kontext erwiesen haben, sondern gerade, welche am Ende ausschieden. Anschließend wird sich der nächsten Sequenz gewidmet und das Vorgehen wird wiederholt: Leseartproduktion, Explikation der pragmatischen Implikationen, Vergleich mit empirischer Realisierung, Ausschluss von Lesearten. Dabei werden nur Lesearten verfolgt, die sich auch mit vorherigen Sequenzen kompatibel erweisen haben. Über Zeit werden die aufgestellten Lesearten nach und nach ausgesiebt (ebd., S. 23 [2]).

Voraussetzung für empirisches Vorgehen (Prinzipien der Sequenzanalyse)

  • Um die Bedeutung von sozialen Interaktionen einer Sprach- und Interaktionsgemeinschaft erfassen und rekonstruieren zu können, wird vorausgesetzt, dass man selbst zum Mitglied jener Gemeinschaft zählt. Als unterstützend dabei sollte die gemeinsame Interpretation in einer Gruppe angewandt werden. (Prinzip der Gruppeninterpretation)(ebd., S. 13 [2]).
  • Der Interpretationsvorgang selbst sollte ohne Zeit und Handlungsdruck vollzogen werden, dass eine umfassende Analyse ermöglicht wird (Prinzip der Entlastung vom Handlungsdruck) (ebd. [2]).
  • Der zu interpretierende Text gilt in seiner Gesamtheit. Kein Detail ist dabei unwichtig oder als zufällig zu bewerten (Prinzip der Totalität) (ebd., S. 14 [2]).
  • Aus dem Material sind nur Geschichten und Lesearten zu bestimmen, die vernünftigerweise oder wahrscheinlich durch den Text zu erschließen sind. Absurde Lesearten oder Geschichten, wie beispielsweise die Vermutung, es handele sich um einen böswillig zusammengestellten Text oder um eine Theateraufführung, sind dabei vollkommen auszuschließen (Prinzip der Sparsamkeit) (ebd. [2]).
  • Die Interpretation selbst wird Zug um Zug, also Sequenz für Sequenz, vollzogen (Prinzip der Sequentialität) (ebd., S. 18 [2]).
  • Außerdem ist Kontextwissen über die Persönlichkeitsstruktur der Beteiligten auszublenden (Prinzip der Kontextfreiheit) (ebd., S. 19 [2]).

Warum Sequenzanalyse?

Die Sequenzanalyse wird vor allem dann verwendet, wenn es um die Deutung der Tiefendimension und um Strukturen geht. Der Vorteil dieser Herangehensweise liegt in der Aufwendigkeit und Unhandlichkeit der Methode. Was zunächst paradox klingt, führt uns, wenn strikt durchgeführt wird, zur “Zerstörung der eigenen Vorurteile” und weg vom Raum alltagsweltlicher Interpretation. So brechen alle geltenden Vorurteile, Urteile, Meinungen und Ansichten in der Regel schnell zusammen(ebd., S. 2f [2]). Jedoch bleibt es wichtig, den Vorgang des eigenen Deutens mit soziologischem Blick selbst zu betrachten. Denn, Interpretative Soziologie ist auch immer die Soziologie des Interpretierens (ebd., S. 6 [2]).

Die Logik hinter der Sequenzanalyse bezieht sich auf zwei Grundaspekte, dem Interaktionistischen-Aspekt und dem Struktur-Aspekt. Die Lebenspraxis zwingt den Akteur zu Handlungen, ohne dass für die konkrete Handlung selbst dem Akteur eine Begründung bekannt ist. Deswegen ist ein permanentes Entstehen neuer und spontaner Handlungen möglich (ebd., S. 16f [2]). Aber auch wenn neue Handlungen prinzipiell jederzeit entstehen können, bedeutet das nicht, dass sie sich völlig zufällig gestalten. Die Produktion neuer Handlungen vollzieht sich anhand sozial vorgedeuteter Bahnen, welche generell rekonstruierbar sind.

Weiterhin ist zu beachten, dass die Sequenzanalyse lediglich für Einzelfälle nutzbar ist. Standardisierte und großflächige Erhebungen werden aus methodologischen Gründen abgelehnt, da ein radikales und unvoreingenommenes sich-einlassen auf den Fall nötig ist. (ebd., S. 17f [2]).

Literatur

  1. Maiwald, Kai-Olaf (2005). Competence and Praxis: Sequential Analysis in German Sociology [46 paragraphs]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(3), Art. 31, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0503310.
  2. 2,00 2,01 2,02 2,03 2,04 2,05 2,06 2,07 2,08 2,09 2,10 2,11 2,12 Reichertz, Jo (2011): „Die Sequenzanalyse in der Hermeneutik“, in: Soziologie-ley.eu, 18.04.2014, URL: http://www.soziologie-ley.eu/mediapool/112/1129541/data/Sequenzanalyse.pdf, Abruf am 02.03.2018